Fernweh - für immer
Von jeder Reise kommt man als ein anderer zurück
Reisen verändert, Reisen schafft Frieden und Zufriedenheit, das ist jedenfalls eine Erfahrung, die wir während unseres freien Jahres machen durften. Während sich Gitti ganz pragmatisch wieder in den Alltag einfand, als habe sie ein Kalenderblatt abgerissen und ein neues wurde sichtbar, fällt es mir immer noch schwer, die reale Lebenswirklichkeit anzunehmen.
Ich erinnere mich sehr gut an den ersten Schultag nach dem Sabbatjahr. Es war ein Freitag und das Kollegium traf sich vor dem eigentlichen Schulanfang zu einer Dienstversammlung. "Hier ist der Stundenplan", "Wie ist deiner?", "Oh, ich habe so viele Freistunden", dann die langweiligen Reden der Schulobrigkeit, es hatte sich also nichts verändert. Es waren die gleichen Probleme, die gleichen Abläufe ... und ich mittendrin. Vor kurzem noch in einer anderen Welt, nahm ich eher abwesend daran teil. Nur sehr wenige fragten, wie es gehe oder wie wir uns eingelebt hätten. Es schien so, als hätten einige, gefangen im Alltag, nicht gemerkt, dass ich ein Jahr weg war. Nichts hatte sich verändert, nur ich bin ein Anderer!
Mein geistiger Zoom ist im Dauerbetrieb
Dritte Stunde Geographie, die Schüler sollen den Atlas aufschlagen, die Südamerikakarte. Meine Augen fokussieren Peru, und jetzt beginnt es. Wie bei Google Earth wird die Karte größer und größer, der Colca Canyon erscheint, die Oase am Talgrund und wir irgendwo auf dem Weg in den mehr als 1000 m tiefen Canyon. Meine Gedanken schweifen ab und eine Frage eines Schülers reißt mich jäh aus meiner Erinnerungsreise. Diese Momente dauern fort, tauchen in den unterschiedlichsten Situationen auf, sei es bei einem Sonnenuntergang während des Laufens oder ein Wort, das beiläufig gesagt wird, jedes Mal wird ein Blitzlichtgewitter in meinem Kopf ausgelöst und Bilder und Erlebnisse tauchen unvermittelt auf. Diese Momente bergen etwas Leibhaftiges, Reales in sich, lenken aber vom Alltag ab und erwecken die Sehnsucht nach neuen Reisen.
Eine Freiheit, die uns gefiel
Längere und auch häufige Urlaube und Reisen gehören schon lange in unseren Jahreskalender, aber diese besonders langen Reisen und diese vergleichsweise besonders lange Zeit waren eine ganz neue Erfahrung. Die Freiheit, die wir dabei erfuhren, war etwas ganz besonderes. Denn es war nicht jene Freiheit, die im Verständnis der westlichen Welt vorrangig als große Errungenschaft propagiert wird und die sich eher auf die vielfältigen Möglichkeiten bezieht, frei zu konsumieren oder den Wohnort frei wählen zu können, im Übrigen mit der gesellschaftlichen Erwartung, immer auf den neuesten Konsumstand zu sein und jedes Jahr den vermeintlichen Wert dieser Konsumartikel zu steigern, sondern es war die Chance, loszulassen, all das, was einerseits unser Leben scheinbar vereinfacht, aber andererseits oft auch eine Last ist.
Auf das Nötigste beschränkt, das traf zumindest auf Südamerika und Südostasien zu. Reisen mit Rucksack, das Volumen des Bedarfes reduziert auf rund 70 Liter Packvolumen, inbegriffen unser Kocher und das packfreundliche Reisekochgeschirr. Schnell war das Verstauen im Rucksack zur schnellen Routine geworden. Unsere überschaubare Packliste war ein Symbol für das, was wir zurückgelassen hatten. Denn auch die Last des Alltages war in Deutschland geblieben. So konnten wir uns mit Haut und Haaren dem Reisen und jenen Erlebnissen widmen, die wir fortan in unseren Herzen tragen. Diese Freiheit hatten wir so noch nie kennengelernt. Ich vermisse das Gefühl, vor allem angesichts des teilweise unnützen Ballastes, mit dem wir uns im alltäglichen Einerlei wieder auseinandersetzen müssen.
Die Freiheit, die Weite zu erleben
In Europa und speziell in Deutschland kennen wir das Gefühl der Weite nicht. Lange Strecken sind kaum zurückzulegen, ohne dass man auf Siedlungen oder Kulturland trifft. Bereits in Nordamerika erlebten wir die schier unendlich erscheindende Weite, wir fuhren stundenlang durch Landschaften ohne Häuser zu sehen, nur wenige Autos begegneten uns. Ein wenig konnten wir nachvollziehen, wie einst die ersten Siedler sich gefühlt haben mögen, als sie diese Freiheit erfuhren. Noch extremer war dieses Gefühl in Südamerika. Vor allem die Weiten Patagoniens waren nochmals eine Steigerung zu Nordamerika, Straßen, die scheinbar nur für die selten fahrenden Busse gebaut wurden und hunderte Kilometer ohne Hinweise auf irgend eine menschliche Siedlung. Auch das Altiplano der Anden, jene Hochebenen, die sich erhaben auf ungefähr 4000 m Höhe befinden und in dessen Unwirtlichkeit Lamas und Vikunjas ein hartes Dasein fristen, zeigten uns ein Mal mehr, wie klein wir Menschen in Wirklichkeit sind.
Die Freiheit, viele Menschen zu treffen
Wir befanden uns in einer besonderen Situation, gemeinsam mit all denen, die sich ebenso auf langen Reisen befanden, die ebenso losgelöst vom Alltag eine außergewöhnliche Zeit erleben wollten. Das verband, das schaffte Gemeinsamkeit. Erkennungsmerkmal war der Rucksack, man traf sich auf Busbahnhöfen, in Hostels oder bei den einschlägigen viewing points.
Die Intensität und die Verbundenheit waren aber sehr unterschiedlich. In Nordamerika isolierte uns das Auto. Gleichwohl trifft man hier kaum Rucksacktouristen, sondern eher Wohnmobilisten und andere Autoreisende. Die Kontakte sind kurz, oberflächlich. Dennoch: Die Amerikaner sind nett, hilfsbereit und das jederzeit freundlich-saloppe "How is going" schaffte ein Gefühl von Wohlbefinden während der Wanderungen auf den "Hi"-ways. Besondere Neugierde erweckten wir mit unserer RI-Nummer (Rhode-Island) in den Weiten des Westens, denn Amerikaner haben normalerweise keinen ausreichenden Urlaub für derart lange Reisen mit dem Auto. Wenn wir von unserem Trip auf Nachfrage berichteten, die Bundesstaaten aufzählten, die wir bei unserer Ost-West-Ost-Querung durchfahren würden, begegnete uns Unglaube und Begeisterung, gepaart mit guten Wünschen ("Have a nice trip"). Neid oder Missgunst erfuhren wir dabei nie, sondern eher Begeisterung dafür, dass wir uns so für das Land interessierten.
Ganz neue Erfahrungen sammelten wir in Südamerika, dem Travellerkontinent für Rucksacktouristen. Fast in jedem Hostel lernten wir Traveller kennen, meist deutlich jünger als wir. Man tauschte sich aus, gab Tipps oder erhielt wertvolle Informationen zur Weiterreise oder zu interessanten Highlights. Mancherorts ergab es sich, dass wir gemeinsame Unternehmungen erlebten, oder es gab wirklich intensive Gespräche oder auch gemeinsames Feiern. Für diese Freiheit sind wir ganz besonders dankbar und wir denken mit Wehmut an all die netten Menschen zurück, die wir trafen. Einige jener Begegnungen sind in den Reiseberichten festgehalten.
Deshalb möchten wir all jene grüßen, die einige Zeit mit uns verbracht haben. Wir vermissen diese Kontakte und denken gerne an euch zurück. Euch alles Gute, wo ihr auch immer seid.
Jederzeit waren wir offen, auch die Einheimischen kennenzulernen. Wir waren neugierig und interessiert. Auch für diese Erlebnisse sind wir dankbar. Sie haben die Sicht auf die Welt nachhaltig verändert.
Noch ein Mal auf und davon - diese Freiheit würden wir uns gerne wieder nehmen
Die Enge des Lebens in Deutschland hat uns wieder, das Fernweh ist geblieben. Neben den intensiven Erinnerungen, die Teil unseres Daseins geworden sind, ist die Sehnsucht nach Freiheit, das Bedürfnis zu reisen, ein immer wiederkehrendes Thema in unserem Alltag. Neben der großen Dankbarkeit, das Privileg einer einjährigen Auszeit genießen zu können, kreisen die Gedanken darum, ein zweites Mal um die Welt zu reisen. Werden wir uns diese Freiheit noch ein Mal nehmen können? Wir haben unsere Zeit gut genutzt, auch ein zweites Mal würden wir es ebenso machen.
Danke...
... an die treuen Leser und Begleiter unserer Reisen. Wir werden diese Seiten weiterführen und von unseren nächsten Reisen berichten. 2015 ist sechs Wochen Südamerika geplant, wir sind schon jetzt voller Vorfreude...
Zum Abschluss
Ich habe stets versucht, Momente unserer Reise fotografisch festzuhalten. Ich glaube, dass mir das auch ganz gut gelungen ist. Doch ein Fotograf, der im Schlepptau einer eiligen Frau versucht, sich kurze Auszeiten zu nehmen, läuft Gefahr, alleine zurückzubleiben. Das folgende Video zeigt das recht anschaulich.